Und plötzlich Lutz
Er haute sie komplett aus den Socken. Sah zwar noch immer so aus wie sie ihn auch erinnerte, doch war das Bild verschwommen gewesen und eine Berührung auf der Haut konnte man auch durch den Telefonhörer nicht wirklich fühlen. Dass ein paar Falten dazugekommen waren, nun, das fiel kaum auf. Und wie manche alternden Männer immer grau und grauer wurden innerlich, war Lutz genau dies nicht passiert.
Viola sehnte sich nach reinen, leuchtenden und sauberen Farben. Nach einer Beziehung mit Gefühl, nach Berührung und Nähe. Wie, wusste sie auch nicht, das war noch eher diffus. Nun aber war er da und plötzlich wurde das körperlich und unberechenbar männlich. Ein wenig wild. Da hieß es aufpassen und den Boden unter den Füßen nicht verlieren. Und da sie sich am sichersten fühlte, wenn sie dann HINTERHER schwärmen konnte, wie extrem wahnsinnig erotisch die Berührung hinten im Nacken gewesen war, als er mal eben kurz zart drüberstrich, war sie nun blöd dran. Denn er war ja wieder weg. Ja wirklich, elektrisch war es gewesen und eigentlich hätte sie schnurren mögen wie ne Katze, der man über's Fell streicht. Doch das verbot sie sich. Da fiel ihr wieder diese kleine Szene ein.
Stellen Sie sich einfach einen kleinen Provinz-Strand irgendwo an der Ostsee vor und wie eine Frau von einem Mann aufgefordert wird, mal eben über seine Beine auf seine Schultern zu klettern und dann irgendwann dort oben mit dem Kopf in luftiger Höhe von gefühlten vier Metern freihändig zu stehen. So geschehen und Viola staunte nicht schlecht, dass sie sich das noch traute nach so langer Zeit. Ja, damals vor dreißig Jahren, da hatten sie das auch getan. Trainiert für eine sehr besondere Theater-Aufführung. Er der Theater-Direktor und irgendwo gab es noch so ein sehr süßes Schwarz-Weiß-Foto von ihr mit Locken-Perücke, Clowns-Nase und gestreiftem Shirt. Jedenfalls stand sie nach langem Zögern dann da oben aufrecht und breitete die Arme wie Flügel aus und die umherliegenden Strandgänger schauten wohlwollend applaudierend zu. Ja … doch … war schon schön, mal wieder so etwas zu erleben. Wann erlebte Frau das schon mit Mitte Fünfzig, dass ein Mann ihr sagte: „Los, hopp, komm auf meine Schultern!“
So vieles bei ihr war noch mit kleinen Schrecken verbunden. Oh Gott, er fasst meinen Fuß. Oh Gott, er riecht an meiner Sandale. Oh Gott, er schnuppert in meinem Nacken. Oh Gott, er umarmt mich. Oh Gott, er ist so animalisch. Wusste er denn nicht, dass sie unberührt war seit langer Zeit? Sicherheitsabstand mindestens ein Meter. Ein wenig spröde die Kleine und wie das gekommen war, wusste sie auch nicht. Schlechte Erfahrungen vielleicht mit Menschen, die die Grenze nicht hatten wahren können.
Sie kennen das sicher … nach langen Entbehrungen hauen Sie schon die kleinsten Erfreulichkeiten um. Und so stellen Sie sich das bitte auch vor mit der kleinen zarten Berührung hinten bei ihr im Nacken. Ja? Können Sie das? Mehr muss manchmal gar nicht. Reicht schon, dies Kleine. Glauben Sie mir.
Alles andere, die Fahrradtour, der Besuch auf dem Hof, die Heimat und das Sein am Wasser gehörte mit zu den erfreulichen und nicht selbstverständlichen Erlebnissen. Denn das kannte sie auch anders und wie oft hätte sie am liebsten gesagt: „Halt doch einfach mal die Klappe!“
Umarme mich einmal wieder, mein Freund, es war wunderbar dort am See mit dir auf diesem Stein. Und auch, wenn ich dir vieles nicht sagte, so tat ich es doch nun.